Marvin - der alte Bär
Kaukase aus dem Tierheim Hannover
von Jens Trant
Aus schlechter Haltung und dem fatalen Versuch ihn scharf machen zu wollen kam
"Stalin" in das Tierheim. Zwinger, Haltungsbedingungen und der Versuch seinen
hohen natürlichen Schutztrieb noch zu steigern hatten ihn total aus dem Ruder
laufen lassen. Aggressiv, bissig und nicht mehr kontrollierbar.
Vier Jahre seines Lebens waren nun schon vorüber. Nun begann seine Zeit im
Tierheim. Einem Pfleger hatte er es zu verdanken am Leben bleiben zu dürfen. Er
war der Einzige, den "Stalin" anfangs akzeptierte. Sein Name war ja schon
Programm und sagt bereits viel über die Einstellung seines Vorbesitzers. Der
Pfleger arbeitete mit Stalin und konnte Stück für Stück Zugang zu ihm bekommen.
An eine Vermittlung war aber noch lange nicht zu denken. Ein Jahr verging, ehe
wir ihm im Tierheim begegneten. Auf der Suche nach einem Familienhund kam er für
uns allerdings überhaupt nicht in Frage. Laien, die wir damals waren, wären wir
auch hoffnungslos überfordert gewesen. Von seiner Rasse - kaukasischer
Owtscharka - hatten wir auch noch nie etwas gehört. So fand "Nero",
paradoxerweise ebenfalls ein Kaukase, ein Zuhause bei uns. Er saß nur ein paar
Meter weiter im Tierheimzwinger und zeigte ein genau gegenteiliges Verhalten.
Nie im Leben hätten wir gedacht, dass beide der gleichen Rasse angehörten. Durch
"Nero" befassten wir uns intensiv mit dieser Rasse. Saugten förmlich alles an
Informationen auf, was nur zu bekommen war. "Nero" zeigte uns wie intensiv ein
Kaukase sein Rudel lieben und auch beschützen kann. Für uns eröffnete sich eine
neue Welt.
Ein Jahr später. Nero hatte zwischenzeitlich einen Kameraden bekommen. Als
Notfall im Tierschutz landete "Eisbär" bei uns. Ein
Central-Asiatischer-Owtscharka, damals ganze 10 Wochen jung. Nunmehr aber auch
bereits ein Jahr alt. Stalin hatten wir aber nicht aus den Augen verloren. Auch
er hätte ein Zuhause verdient. Durch unseren locker gehaltenen Kontakt zum
Tierheim informierten wir uns auch immer über sein Schicksal. Zwei Mal wurde er
vermittelt und jedes Mal umgehend wieder
zurückgebracht. Bissig und aggressiv. So galt er jetzt als nicht mehr
vermittelbar. Sein Schicksal schien besiegelt. Hoffnungslos - Endstation?
Wir wollten das einfach nicht hinnehmen und beschlossen unseren Teil zu einer
Resozialisierung beizutragen. Als gutes Omen sahen wir schon mal die
Namensänderung von "Stalin" auf "Marvin", die das Tierheim bereits
vorgenommen hatte. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt. Nur, wie sollten wir
Zugang zu ihm finden? Patentrezepte gibt es für solche Fälle nicht. Als ersten
Schritt führten wir mit dem Pfleger Gespräche - vor Marvins Zwinger - und
beachteten ihn überhaupt nicht. So begriff er, wir sind keine Feinde. Seine
Bezugsperson ist freundlich zu uns, also alles in Ordnung. Dann kam unser erster
Spaziergang. Mulmig war uns schon. Als typischer Bergkaukase war Marvin fast
quadratisch im Körperbau mit enorm breitem Kreuz, Pfoten von der Größe einer
Suppenkelle, mächtigem Schädel und
immerhin über 70kg Gewicht! Was wäre wenn...? Nur nicht dran denken! Ohne
Maulkorb ging es dann los zum ersten Spaziergang. Um jeden anderen Hund einen
großen Bogen machen, hatten wir mit auf den Weg bekommen. Er geht sonst sofort
los. Bekommt er den anderen Hund nicht, nimmt er ersatzweise seinen
Leinenhalter! Es wurde ein toller Spaziergang für alle Beteiligten.
Keine Probleme. Strahlend kamen wir wieder in das Tierheim zurück und warteten
mit Marvin auf seinen Pfleger, damit er ihn wieder in den Zwingerbringen konnte.
Meine Frau gab ihm ein Leckerli. Dann noch eins. Als sie zum dritten Leckerli in
die Jackentasche griff, biss er ihr in den Ärmel.
Unvermittelt und ansatzlos ohne Vorwarnung. Passiert war nichts. Die Jacke hatte
nur 2 zusätzliche Löcher bekommen. Entmutigen oder abschrecken ließen wir uns
dadurch natürlich nicht. Zeigte es doch nur, wie viel Arbeit noch vor uns lag.
Die folgenden, weiteren Spaziergänge mit ihm verliefen aber dann alle ohne
Zwischenfälle. Wir gewannen Stück für Stück sein Vertrauen. Jetzt freute er sich
sogar schon, wenn wir kamen. Die harte Schale bekam schon ganz kleine Risse.
Vertrauen bekommt man eben nicht geschenkt - es muss erarbeitet werden.
Jeden Tag konnten wir leider nicht in das Tierheim fahren. Geld muss schließlich
auch verdient werden und unsere beiden Hunde wollen ebenfalls ihr Recht. Der Weg
zum Tierheim schlägt zudem noch mit knapp einer Stunde Fahrerei zu Buche. Woher
die viele Zeit nehmen? Wenn man mit allen 3 zusammen gehen könnte, wäre schon
einige Zeit gewonnen und Marvin bekäme
auch Kontakt zu anderen Hunden. Strahlend
unterbreiteten wir Marvins Pfleger unsere Idee. Er schaute uns zuerst an, als
wären wir Marsmenschen. Nero UND Marvin zusammen? Nie im Leben. Die zerfleischen
sich! Beide dominant und so weiter...
Diesen Eindruck hatten wir allerdings nicht.
Und, wir können hartnäckig sein. Es wurde ein Treffen auf neutralem Boden
vereinbart, bei dem wir definitiv die Verträglichkeit testen wollten. Eine große
Wiese war hierfür ideal. Marvin mit seinem Pfleger und ich mit Nero gingen auf
einander zu. Die Hunde ohne Leine. Der Pfleger und ich trafen uns gaben uns die
Hand und gingen zusammen in eine Richtung weiter. Nero und Marvin beschnupperten
sich und... trotteten gemächlich hinter uns her. Kein Brummen, Knurren oder
Beißen. Friede auf ganzer Linie. Wir blieben schließlich stehen und setzten uns
ins Gras. Nero legte sich links von mir hin und Marvin rechts. Beide ließen sich
genüsslich von mir kraulen -
gleichzeitig. Nun kam Eisbär noch dazu. Unser kleiner Wirbelwind schaffte es
sogar Marvin zum spielen zu bekommen. Seit er im Tierheim war, hat es das nicht
gegeben. Davor mit Sicherheit auch nicht.
Der Pfleger war sprachlos. Diese 3 gaben ein solch friedliches und harmonisches
Bild, man konnte es kaum glauben. Der alte Bär begann zu leben. 6 traurige
Jahre, die ihn
deutlich gezeichnet hatten, hatte er nun auf dem Buckel und jetzt das. Sein
Leben nahm einen neuen Anfang.
So oft es uns nur möglich war, fuhren wir in das Tierheim. Marvin freute sich
immer heftiger, wenn wir kamen. Gassi gehen mit seinen Kumpeln. Es war jetzt
sein Rudel. Andere Hunde stellten kaum noch ein Problem dar - nur sein Rudel
durften sie nicht "anmachen". Das beschützte er fortan, ohne seinen Leinenhalter
zu attackieren. Nach den Spaziergängen ging es meistens noch in den Freilauf des
Tierheimes. Dort konnten die 3 dann noch ohne Leine toben.
Das taten sie auch ausgiebig. Zum Staunen des ganzen Personals. DER Marvin? DER
spielt? Kein Monster? Nein, ein Hund der langsam wieder Lebensfreude bekam war
zu sehen. Warum konnte ihm keiner ein Zuhause geben? Hatte er es nicht wirklich
verdient? Ein Heim mit genügend Zuwendung, adäquater Haltung und viel Liebe. Wer
ihn einmal bekommen würde, würde sicher reich belohnt werden. Der alte Bär hatte
noch so viel zu geben.
Es ging mittlerweile auf Ostern zu und immer noch kein neues Heim für Marvin
in Sicht. Nach Ostern wäre Marvins Pfleger 6 Wochen nicht da. Was wäre in dieser
Zeit? Wir können einfach nicht jeden Tag kommen. So macht sich ein jeder seine
Gedanken. "Nehmt ihn doch" so die Worte des Pflegers. Was früher ausgeschlossen
für ihn schien, sah jetzt als die beste Lösung aus seiner Sicht aus. Platz wäre
kein Problem bei uns. Unsere Gedanken hatten wir uns ja auch schon gemacht.
Unsere Kinder waren das Problem. Da hatten wir Verantwortung zu tragen. Wie
würde er sich ihnen gegenüber benehmen? Einige Male waren sie zwar ohne Probleme
mit, nur wie sähe es im Alltag aus? Im Familienrat wurde diskutiert und eine
Entscheidung gefällt. Wir wollten ihm ein Zuhause geben. Leicht würde es nicht
werden, darauf stellten wir uns
ein.
Gründonnerstag holten wir Marvin in sein neues Zuhause. Völlig aus dem Häuschen
begrüßte er uns, als würde er etwas ahnen. Die schiere Lebenslust war in ihn
zurückgekehrt. Die Augen blitzten schelmisch und so sprang er freudig in unser
Auto. Daheim angekommen, begrüßten ihn seine Kumpel. Jetzt hatten wir ein Trio.
Und was für eins. Ein Generationenrudel mit nur Rüden.
Eisbär etwas über 1 Jahr, Nero knapp 4 und Marvin 6 Jahre alt. Die Zeit formte
eine verschworene Gemeinschaft - unsere 3 Musketiere. Jeder konnte vom anderen
lernen und tat dies auch. Marvin taute immer mehr auf. Scheibchenweise gewannen
wir sein Vertrauen. Immer ein Stück weiter. Fast ein Jahr hat es gedauert, bis
er uns (fast) 100% vertraute. Die Narben auf seiner Seele waren sehr tief. Was
musste er alles erlitten haben. Wir können es nicht mal ahnen.
Nun war der Glanz in seine Augen zurückgekehrt – auf Dauer und nicht nur ein
kurzes aufblitzen. Er war glücklich und liebte sein Rudel über alles. Was wir
ihm an Liebe gaben, gab er zig fach zurück. Welches Glück wurde uns zuteil, ihn
bei uns zu haben. Er war ein wahres Geschenk. Viele Anekdoten und Geschichten
könnte ich berichten und würde ihm nicht annähernd gerecht werden.
Anfang Januar 2005 hatte er gerade eine Halsentzündung gut überstanden, als es
ihm plötzlich wieder schlechter ging. In der Tierklinik wurde daraufhin eine
Blutuntersuchung mit anschließender Ultraschalluntersuchung vorgenommen. Die
Diagnose traf uns wie ein Schlag. Aufgeplatzter Tumor auf der Milz. Noch am
späten Abend wurde die OP mit Entfernung der Milz vorgenommen. Die ganze Nacht
wachten wir bei ihm und sagten ihm er müsse kämpfen. Er schaute uns nur an und
fiepte leise. Die Ärzte versuchten alles in ihrer Macht stehende, vergebens.
Mittags wurde er erlöst. Der alte Bär ist tot. |
Es lohnt sich um jede Kreatur zu kämpfen. Jeder hat nur ein Leben - auch ein
Tier. Gerade die Tierheimtiere danken es besonders. |
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